Entspannter die Wahrheiten ertragen
- Ronald Keusch
- vor 1 Tag
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 7 Stunden
Über die Premiere „Ziemlich beste Lieder (und ziemlich böste Texte)“ im Kabarett-Theater „Distel“
Plakat zum Distel-Programm "Ziemlich beste Lieder" © Artwork Holger Matthies

Eine Premiere im doppelten Sinn feierte das Kabarett-Theater „Distel“ in der Berliner Friedrichstraße. Zum ersten Mal wurde am 14. April in der langen legendären Geschichte der Distel, immerhin wurde sie vor mehr als 70 Jahren gegründet, ein Kabarett-Konzert gegeben. Der Abend bot den Besuchern zwei Dutzend Songs und Lieder aus den letzten zehn Jahren, angereichert mit aktuellen Titeln.
Dementsprechend hatten die vier Musiker ihren Platz nicht am Rand im Theatergraben, sondern auf der Bühne eingenommen. Und sie kommen von angesehenen Musik-Adressen: Falk Breitkreuz, Saxofonist von der Musikhochschule „Hanns Eisler“, Kai Schönburg, Schlagzeuger und Musikproduzent von der Musikhochschule Köln, Igor Spallati am Kontrabass studierte nach klassischer Ausbildung in Italien am Jazz-Institut Berlin und der Pianist Tilman Ritter machte sich nach dem Studium in Los Angeles und Berlin als Komponist und Produzent für Film, TV und Theater einen Namen und hat hier für dieses Distel-Programm die Musikalische Leitung übernommen. Alle vier Musiker sind in der Jazz- und Pop-Szene in Berlin bestens bekannt, spielen mit vielen Orchestern, Bands und Solo-Künstlern und haben zahlreiche Tonträger veröffentlicht.
Der Titel des Abends „Ziemlich beste Lieder – Das Kabarett-Konzert “ und als Nachsatz in Klammern gesetzt „und ziemlich böste Texte“ (kein Druckfehler) signalisiert, dass hier ein exzellenter Kabarett-Autor am „Werkeln“ war. Für das Buch dieses Programms wurde Thomas Lienenlüke engagiert. Er ist einer der meistbeschäftigten Comedy- und Kabarett-Autoren in Deutschland, der auch in der Distel schon Programme erfolgreich aufführte, wie „Zwei Zimmer, Küche, Staat“ (2017) oder „Odyssee im Hohlraum“ (2018). „Das Grundkonzept ist insofern ein Novum“, so Lienenlüke, „weil im Programm sowohl neu geschriebene Lieder enthalten sind als auch Lieder aus früheren Programmen der Distel von verschiedenen Autoren und von mir. Und es ist schon spannend, wenn Lieder, die ich für frühere Programmen vor Jahren geschrieben habe, in anderem Kontext stehen. Und da gilt der Satz des Kabarettisten Pispers: Es ist alles immer noch verdammt aktuell.“
Ensemble des Distel-Programms "Ziemlich beste Lieder" © Chris Gonz

Zur Eröffnung im Opening singen die drei Akteure auf der Bühne Caroline Lux, die zugleich für die Choreografie auf der Bühne zuständig ist, sowie Maximilian Nowka und Michael Schrodt mit Augenzwinkern, dass das Publikum mit den Liedern im Programm viel entspannter die Wahrheiten ertragen kann. Doch wieviel Mut zur Wahrheit braucht es für allgemein gehaltene Kritik an Politik und Gesellschaft, an KI und an der Überflutung durch digitale Programme – eher nur Gratismut. Wieviel Mut zur Wahrheit braucht es für konkrete Kritik am Schein und Sein der elitären Konsorten im Elfenbeinturm, an den Technokraten, Transhumanisten, Kriegstreibern und Globalisten, und zwar mit Namen und Hausnummer – dazu braucht es heutzutage ein gehöriges Maß an Mut auch auf der Kabarettbühne.
Bei diesem Liederabend gibt es einen Wechsel von sehr gelungenen, aber auch vordergründig plakativen Liedtexten. Während die Titel „Die EU hat leider zu“ und „Müllberge“ etwas ächzend die Zeitgeist-Vorgaben bedienen, sind daneben genial arrangierte Liedszenen wie der Song der Talker zu erleben, der das Unwesen der Talk-Shows auf die Schippe nimmt. Mit dem faszinierenden rhythmischen Talk Talk Talk könnte dieser Song in die Hitparade der Kabarett-Songs aufsteigen.
Der Premieren-Abend der „Ziemlich beste Lieder“ hat einige Glanzlichter gesetzt, die vom Publikum mit besonderem Beifall anerkannt wurden. Dazu zählt das Lied über den Zustand der heutigen SPD. Es beginnt mit der Textzeile: „Ich kann nicht mehr sehen, trau‘ nicht mehr meinen Augen, kann kaum noch glauben, Gefühle ha‘m sich gedreht, ich bin viel zu träge, um aufzugeben, es wär‘ auch zu früh, weil immer was geht …“, so lautet der Originaltext in dem bekannten Song von Herbert Grönemeyer. Der melancholisch einfühlsame Song im Grönemeyer Duktus, bezogen auf die Beziehung eines Liebespaares, wurde textlich ergänzt. Nunmehr beschreibt er die Beziehung zwischen der SPD und ihrer schrumpfenden Wählerschaft. Einfach ein grandioser Kabarett-Song. Michael Schrodt lief bei diesem Grönemeyer-Song über die SPD zu Hochform auf.
Eine ebenso perfekte gesangliche Inszenierung wurde den Besuchern mit der Gesangs-Nummer „Ich brech die Herzen der stolzesten Frau`n “ geliefert, einem von Lothar Brühne komponierten Schlager aus einem alten UFA-Film, der von Heinz Rühmann bekannt gemacht wurde. Der Schauspieler Maximilian Nowka schlüpfte mit einer ironischen Textneufassung und sichtlichem Vergnügen in die Rolle des Politikers Robert Habeck, der sich als eitler Gockel „unseren Menschen“ präsentiert.
In beiden Liedern, sowohl in dem Grönemeyer Song „Der Weg“ als auch in dem Rühmann-Titel mit der eingängigen Melodie, gelang es nahezu perfekt, musikalische Ohrwürmer mit bissigen ironisch-satirischen Texten zu vereinen, und die Texte machten hier auch dem Untertitel der ziemlich „bösten“ Texte alle Ehre. Bei einer Reihe von Liedern im Programm ist nach meinem Empfinden diese besonders emotional wirkende Verbindung nicht geglückt, was teilweise auch an den zu ähnlich klingenden Kompositionen gelegen haben mag.
Das Premierenpublikum in der Berliner Distel - es ist nun schon ihr 162. Programm - hat das Team um Regisseur Dominik Paetzholdt mit viel Beifall belohnt. Auch wenn sich vielleicht so mancher Besucher beim Beifall klatschen von dem Kabarett-Theater in Berlin-Mitte mehr und schärfere Distel-Stacheln gewünscht hätte. Immerhin hat die Distel den selbst gewählten Anspruch, „Stachel am Regierungssitz“ zu sein.
Das Programm „Ziemlich beste Lieder“ spielt noch vom 15.04. bis 18.04. jeweils um 19:30 Uhr und am 19.04 um 20 Uhr
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