Dumm, nervig, nutzlos - das Gesetz zu fest montierten Flaschendeckeln
Ich kann mich noch genau an Diskussionen vor zwanzig Jahren über den Sinn und den Unsinn der Europäischen Union in meinem internationalen Kollegenkreis erinnern. Neben dem Vorteil einer einheitlichen Währung, den wir sehr genossen – wir brauchten nicht mehr verschiedene Portemonnaies zu unseren Dienstreisen mitzuführen – fiel den meisten von uns nicht allzu viel Positives ein. Mein Brüsseler Kollege führte dann das Argument von einheitlichen Maßen und Normen als Vorteil ins Feld. Er war bei uns für die Betreuung des Großkunden Europäische Union zuständig. Mit der Folge, dass er mit einem Dutzend von Negativ-Beispielen bombardiert wurde: Der „Gurkenverordnung“, die bis 2009 nur eine Abweichung in der Krümmung von 10 Millimetern (!) vorschrieb, der „Bananenverordnung“, mindestens 14 Zentimeter lang und 27 Millimeter dick muss sie sein, Marmelade darf sich nur nennen, wenn mindestens 20 Prozent Zitrusfrucht-Anteil drin ist, es gibt Regelungen für Pizzas, Grillroste, Kuscheltiere und Kondome.
Und jetzt auch noch die Regelung, dass die Deckel von Kunststoffflaschen fest mit der Flasche verbunden sein müssen. Ich halte es wie die meisten meiner Bekannten: Ich drehe oder schneide den Deckel ab, denn der Deckel stört einfach beim Eingießen oder Trinken, ständig hängt er auf der falschen Seite. Und ganz besonders ärgerlich wird es, wenn man ein Getränk konsumiert, das man vor dem Öffnen gut schütteln soll, Milchmixgetränke oder Orangensaft. Dann tropft einem der klebrige Inhalt des Deckels wahlweise über das Jackett, die Tischdecke oder die Hand. Und wenn die Flasche leer ist? Dann kommt der Deckel natürlich wieder rauf – so wie bisher auch.
Schauen wir genauer hin, wie denn diese Verordnung zustande kam. Nach Angaben des Bundesumweltministeriums liegt der EU-Richtlinie eine Studie zugrunde, wonach Kunststoffdeckel zu den am häufigsten gefundenen Kunststoff-Abfällen an Stränden in der EU gehören. Tatsächlich? Bei uns, wo Plastikflaschen mit 15 oder sogar 25 Cent Pfand belegt sind? Diese ominöse Studie war nirgendwo im Netz zu finden, weder in Englisch noch auf Deutsch. In der Britischen Daily Mail wird die Europäische Kommission zitiert: Plastikkappen machen 4 Prozent (!) der gesamten Plastikmenge an Europäischen Stränden aus.
Da habe ich ein paar Fragen: Was ist mit den anderen 96 Prozent? Ein Plastikdeckel wiegt 2 Gramm, eine Ein-Liter-PET-Flasche rund 50 Gramm, also 25 Mal so viel. Sollte man sich da nicht auf das Flaschenproblem konzentrieren als auf die verwaisten Deckel? Wäre es nicht besser, billiger und nachhaltiger, sich für die regelmäßige Strandsäuberung einzusetzen, einfach mehr Abfallcontainer an den Stränden aufzustellen oder wie in Deutschland ein generelles Pfandsystem für Plastikflaschen einzuführen, als nun den Zorn der Verbraucher ob dieser unsinnigen Regelung auf sich zu ziehen? Hat man bei der Entscheidung auch bedacht, dass jetzt mehr Plastik-Material eingesetzt wird und dass es erheblicher Investitionen bedurfte, die natürlich – wer sonst – der Verbraucher tragen durfte. Wo ist eine sorgfältige Kosten-Nutzen-Analyse?
Kann es sein, dass diese ominöse Studie auch wieder nur so ein Gefälligkeitsgutachten ist, bei dem Korrelation und Kausalität verwechselt wurde? So wie man bei genauerer wissenschaftlicher und statistischer Betrachtung bei einer großen Zahl von veröffentlichten Klimaschutzstudien schwere handwerkliche Fehler findet. Und ich möchte nicht wissen, wie viele frustrierte Konsumenten jetzt die Plastikkappen abdrehen und in die Landschaft feuern, nach dem Motto „Jetzt erst recht“.
Nichts gegen Normen an sich. Wohl jedem fallen Dutzende Beispiele für sinnvolle Normen ein. Was wären weltumspannende Netzwerke und Telefonverbindungen ohne Telekommunikations-Normen? Ohne einheitliche Standards in der Energieindustrie würden wir keine Energie aus den Nachbarländern erhalten, wenn uns unsere eigene verfehlte Energiepolitik an den Rand des Blackouts bringt. Und ohne die elektrische Kompatibilität der Eisenbahnen würden die Züge an unserer Landesgrenze stehenbleiben.
Doch bei genauerer Betrachtung sehen wir, dass die Idee von Normierung und Standardisierung sehr viel älter ist als die Europäische Union. Die Einteilung der Welt in Zeitzonen wurde bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts vollzogen, denn mit der Einführung der Telegrafie und dem Bau längerer Eisenbahnstrecken wurde für deren Betrieb auch eine einheitliche Zeitangabe entlang der gesamten Infrastruktur erforderlich. Andere Normen sind sogar noch viel älter, wenn man an Gewichte, Längenmaße, Zeitmaße, Währungen oder Schriftzeichen denkt. Mit der Industriellen Revolution wuchs im ausgehenden 18. Jahrhundert der Bedarf, normierte Komponenten einzuführen, wie Gewinde oder Bohrlehren, die eine Voraussetzung für die industrielle Massenfertigung waren. Innovationen setzten Standards.
Und so wurden dann auch folgerichtig nationale Normierung-Institutionen gebildet. Die deutsche DIN wurde 1917 als Normenausschuss der Deutschen Industrie gegründet. Ihre erste veröffentlichte Norm, die DIN 1, betraf die Maße von Kegelstiften. Ihre bekannteste – die DIN A4 Papiergröße – ist als DIN EN ISO 216 sogar eine international anerkannte Norm. Stand heute verwaltet die DIN ein Regelwerk von rund 35.000 Normen und Vorschriften. Und sie bewegt sich nicht im luftleeren Raum. Auf internationaler Ebene werden Normen beispielsweise von der Internationalen Organisation für Normung (ISO) definiert. Europäische Normen werden vom Europäischen Komitee für Normung (CEN) sowie CENELEC (Elektrotechnik) und ETSI (Telekommunikation) erarbeitet, alles private Non-Profit Organisationen. Nicht zu vergessen die Vielzahl an internationalen Berufsverbänden, Stakeholder, Institute und Unternehmen, die alle auf diesem Gebiet mitreden. Getreu dem Motto „Wer die Norm macht, hat den Markt“. Das wusste schon Werner von Siemens im 19. Jahrhundert, der als Begründer der modernen Elektrotechnik erste Vorschriften für elektrische Anlagen setzte und innerhalb weniger Jahrzehnte aus einer kleinen Telegrafen-Bau-Werkstatt einen der weltweit größten Elektro- und Technologiekonzerne entwickelte.
Man fragt sich bei all diesen Normierungs-Gremien unwillkürlich: Hat die Europäische Union nun zur Vereinfachung des Normen-(Un)Wesens beigetragen, oder hat sich der Regulierungswahn verselbständigt? Wenn man sich die Weltfremdheit und Praxisferne mancher Verordnungen ansieht, dann kann man nur zu dem Schluss kommen, dass sich da ein aufgeblähtes Bürokratiemonster mit sich selbst beschäftigt.
Eigentlich sind Normen ja nur Anleitungen und nicht verpflichtend. Aber rund 15 Prozent der 24.363 Normen des Portfolios von CEN und CENELEC (Stand Ende 2023) sind „harmonisiert“ – so heißt das Zauberwort hier. Harmonisierung ist in Wirklichkeit eine Verpflichtung der Mitgliedsländer, die Europäischen Normen zu übernehmen und als Folge müssen dann auch noch die nationalen Normen überarbeitet und angeglichen werden. Also kurz gesagt Doppelaufwand. Wie sinnhaftig oder sinnlos sie immer sein mögen.
Selten waren sich die Verbraucher so einig wie im Fall der fest montierten Flaschendeckel. Der Berliner Kurier startete eine kleine Umfrage. Fazit: Satte 92 Prozent wählten als Antwort „Die festen Deckel nerven einfach nur – weg damit!“
Eigentlich kann man der Normungswut nur noch mit Humor begegnen. Und wer zum Abschluss noch etwas lachen möchte, dem sei der Sketch von Altmeister Dieter Hallervorden zur Standardisierung der Ei-Größe in der EU ans Herz gelegt: https://www.youtube.com/watch?v=u0-oHizPExQ
Besser kann man die Unfähigkeit des Bürokratiemonsters Brüssel nicht auf den Punkt bringen.
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