Über das neue Buch „Die NATO - Eine Abrechnung mit dem Wertebündnis“ von Sevim Dagdelen
Die Kriegstrommeln in Deutschland werden immer lauter. Es wird aufgerüstet, militärisch und medial. Jetzt heißt es „kriegstüchtig“ statt „verteidigungsfähig“ zu sein, wer unsere „Friedensfähigkeit“ anmahnt, ist ohnehin entweder Putintroll oder Nazi. Kriegswahnsinnige von Hofreiter, Strack-Zimmermann bis Kiesewetter bestimmen die Schlagzeilen der Mainstream-Medien und drehen unermüdlich an der Eskalationsschraube. Zahlreiche Umfragen bestätigen allerdings, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung friedliche diplomatische Lösungen fordert. Warnende Stimmen schaffen sich Gehör, auf Ostermärschen, in alternativen Medien, in Reden und Publikationen.
Eine davon gehört Sevim Dagdelen mit ihrem neuen Buch „Die NATO - Eine Abrechnung mit dem Wertebündnis“ aus dem Westend Verlag. Da ist für zartbesaitete Gemüter garantiert schon einiges Gruseln angesagt, denn die Autorin schätzt klare Worte. Seit 2005 ist Dagdelen Mitglied des Bundestages für die Partei „Die Linke“, vor kurzem wechselte sie zum „Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit BSW“. Die in Duisburg aufgewachsene Tochter kurdisch-alevitischer Eltern war lange Zeit Mitglied des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsausschusses. Sucht man Informationen zu ihrer Person bei dem vom „Zeitgeist“ geprägten Wikipedia-Eintrag, kann sich der Leser bei der Bewertung entscheiden: Sind ihre Lebensdaten eine Ehrentafel für politischen Mut zur Wahrhaftigkeit oder eine endlose Auflistung von Verfehlungen, weil sie nicht den Propaganda-Leitlinien des Westens folgt. So ist es auch nicht überraschend, dass ihre aktuellen Positionen in den Mainstream-Medien penibel registriert und ab und an angeklagt werden, in bester Blockwart-Mentalität, um das alte Vokabular neuer Kriegstüchtigkeit zu benutzen. Das neue Buch von Sevim Dagdelen zur NATO erfüllt nun zweifellos die Erwartungen aller, sowohl ihrer Unterstützer wie auch ihrer Gegner.
Die im Titel versprochene Abrechnung beginnt schon in der Einleitung. Hier nimmt die Autorin die drei großen Mythen der NATO unter die Lupe. Diese werden mit unterschiedlichen Blickwinkeln in den insgesamt 128 Seiten immer wieder auftauchen. An erster Stelle steht der Mythos der Verteidigung und des Völkerrechts. Bei der Gründung der NATO 1949 wird eine „Pax Americana“ geschaffen, mit der die USA als unumstrittene Führungsmacht die Kontrolle über die Außen- und Sicherheitspolitik der anderen Bündnispartner ausübt (S. 9). Mit dem Ende der Systemauseinandersetzung mit der Sowjetunion veränderte sich der primäre Zweck der NATO einschneidend. Nun sieht sie sich in der Rolle des Weltpolizisten und führte als Militärpakt 1999 ihren ersten Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Ein klarer Bruch des Völkerrechts, wie selbst der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder 15 Jahre später einräumte. In Afghanistan führte die NATO 20 Jahre lang einen desaströsen Krieg mit 200.000 getöteten Zivilisten. Dazu wurde der internationalen Öffentlichkeit weisgemacht, dass Freiheit und Sicherheit des Westens am Hindukusch verteidigt würden.
Als zweites benennt Sevim Dagdelen den Mythos Demokratie und Rechtstaatlichkeit als „Legitimationslegende der Gründungscharta“. Das war „bereits im Jahr 1949 eine glatte Lüge. Nicht nur in Lateinamerika paktieren die USA von Anfang an mit Diktaturen und faschistischen Regimen, auch bei den NATO-Verbündeten in Europa sind nicht nur Demokratien mit an Bord“ (S. 12). Beispielhaft werden aufgezählt die faschistischen Diktaturen von Francisco Franco in Spanien, von Oliveira Salazar in Portugal und der Militärputsch 1980 in der Türkei. Und auch im Jahr 1967 war der Militärputsch in Griechenland mit Konzentrationslagern und Morden an Oppositionellen kein Grund, die Mitgliedschaft in der NATO zu beenden oder vielleicht sogar ihre Gründungscharta mit einer Intervention in Griechenland durchzusetzen. Und bis in die Gegenwart, so Dagdelen, „geht es bei der NATO nicht um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, sondern allein um geopolitische Gefolgschaft gegenüber den USA. Wie bei einem auf Lügen aufgebauten Reich lebt die NATO von dieser Mär“ (S.13).
Schließlich steht noch der Mythos der Wertegemeinschaft und der Menschenrechte auf der NATO-Agenda. Doch durch die Kriege der USA und der NATO sind in den vergangenen 20 Jahren viereinhalb Millionen Menschen gestorben – das bilanzierte die renommierte Brown University in Rhode Island, USA. Und deshalb ist die NATO keine Gemeinschaft, die Menschenrechte schützt. Im Gegenteil: die NATO ist der Schutzschirm für Menschenrechtsverletzungen ihrer Mitglieder. Wer es dann aber wagt, Kriegsverbrechen öffentlich zu machen, wie der australische Journalist Julian Assange, wird gefoltert und mit 175 Jahren Haft bedroht. Assange ist ein Gefangener der NATO, so das Urteil von Sevim Dagdelen. Und weiter werden aufgezählt das auf einem widerrechtlich besetzten Marinestützpunkt auf Kuba seit mehr als 20 Jahre existierende Gefangenenlager Guantanamo Bay und die USA-Geheimgefängnisse u.a. in Polen und Rumänien sowie die heuchlerischen Doppelstandards bei Bewertung der Situation in der Ukraine und im Gaza-Streifen. Und so erscheint die NATO als Wächterorganisation einer zutiefst ungerechten Weltordnung mit neokolonialistischen Tendenzen. Nach seiner Gründung vor 75 Jahren treibt der Militärpakt mit Expansion und Konfrontation die Welt näher an den Abgrund eines dritten Weltkrieges als jemals zuvor, so das bittere Fazit.
Wie die NATO Kriege befeuert und Frieden verhindert wird in den folgenden elf Kapiteln des Buches ausführlich besprochen und untermauert mit einer Fülle von Zahlen und Fakten sowie mit solidem Quellenmaterial auf neun Seiten Anmerkungen. Einen großen Platz nimmt im Buch die Frage ein: Welchen Anteil hat die NATO selbst an dem Konflikt in der Ukraine? Wie kam es zu diesem Stellvertreterkrieg mit globaler Dimension, in dem sich die NATO seit der völkerrechtswidrigen Invasion Russlands in der Ukraine im Februar 2022 befindet?
Unter der Überschrift „Gebrochene Versprechen“ wird eine Reihe von Zusagen und Versicherungen westlicher Politiker gegenüber der Sowjetunion aufgeführt, die NATO nicht nach Osten auszuweiten. Zwar gibt es keine schriftlichen Vereinbarungen, aber haufenweise historische Dokumente insbesondere aus der Zeit der deutschen Wiedervereinigung. So erklärte der damalige deutsche Außenminister Genscher vor der Presse, dass „nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten.“ Und der damalige US-Außenminister Baker sagte 1990 bei einem Treffen mit Gorbatschow, die NATO werde sich „nicht einen Zentimeter nach Osten ausbreiten“ (S. 20). In diesem Sinne enthält der Zwei-plus-Vier-Vertrag klare Haltelinien. Doch ab Mitte der 90er Jahre setzte die USA scheibchenweise die Erweiterung der NATO Richtung Osten bis an die Grenzen von Russland durch. Wie in Schlaglichtern wird in den folgenden Kapiteln die unheilvolle Rolle der NATO beleuchtet, beim „Betrug von Minsk“, bei der Torpedierung eines möglichen Friedensabkommens zwischen Russland und der Ukraine im Juni 2022, bei der Aufkündigung aller Verträge zur Abrüstung und Rüstungskontrolle und bei der exorbitanten Steigerung der Rüstungsausgaben, die nur einen Gewinner kennt: Die Rüstungsindustrie. „Bereits jetzt schlägt die gigantische Aufrüstung der NATO-Staaten wie auch der flankierende Wirtschaftskrieg in einen sozialen Krieg gegen die Bevölkerung um“ (S. 38). In diesem Zusammenhang entlarvt die Autorin auch die inflationär gebrauchte Wendung von der Kriegstüchtigkeit als Chiffre für militärische Großmäuligkeit, brandgefährliche Hybris und bedingungsloses Eintreten für eine radikale Umverteilung in der Gesellschaft von unten nach oben (S. 41).
Im Kapitel „Wirtschaftskrieg – das Imperium und seine Vasallen“ untersucht Dagdelen, wie Europa und besonders Deutschland die Interessen der US-Konzerne bedient, ganz ähnlich wie eine politische Elite in Lateinamerika in den 70er Jahren ausschließlich US-Interessen vertrat und die Reichtümer der Länder, ob nun Bodenschätze oder Agrarprodukte, verhökerte. „Die EU ist zu einer Filiale von USA und NATO geworden. Sie ergänzt deren Politik und versucht, eigenständig die Eskalation im Stellvertreterkrieg (gegen Russland) voranzutreiben“ (S. 44). Zum Nordstream-Terror und der Energiesouveränität werden die Recherchen des US-Starjournalisten Seymour Hersh präsentiert, der herausfand, dass der US-Präsident direkt für die Sprengung der Pipeline verantwortlich war. Die Bundesregierung verweigert sich der internationalen Untersuchung des größten Terroranschlags in der europäischen Geschichte und hat, so werden bei Dagdelen Spötter zitiert, weniger Ermittler als bei einem mittelschweren Kaufhausdiebstahl im Einsatz. Beim Thema Vasallen Washingtons kommt auch der erste Generalsekretär des Militärpaktes Lord Hastings Lionel Ismay zu Wort mit dem immer noch aktuellen Zitat über die zentrale Aufgabe der NATO: „Die Amerikaner drinnen, die Russen draußen halten – und die Deutschen am Boden“ (S. 46ff.).
Ein großer Vorzug des Buches von Sevim Dagdelen besteht in einer Fülle von nachweislichen Quellen und Zitaten. Eines von vielen anschaulichen Beispielen ist zum Thema Ende der Rüstungskontrolle die 43. Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2007. Hier sind Auszüge aus der Rede vom russischen Präsidenten Putin über die internationalen Sicherheitsprobleme nachzulesen. Sein Auftritt schließt an seine Rede an, die er sechs Jahre zuvor im deutschen Bundestag gehalten hat, wo er für eine vollwertige Zusammenarbeit und Partnerschaft warb. Doch Russland wird über die Jahre von der NATO vor den Kopf gestoßen, so die Autorin (S. 51). Ein anderes Beispiel ist der „Kollateralschaden Völkerrecht“ mit dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien, der gezielten Zerstörung der Infrastruktur Serbiens und des Einsatzes von Streubomben und radioaktiver Munition, ein bewusster Akt der Aggression der NATO-Länder gegen ein souveränes Land. „Keiner der Verantwortlichen in der NATO und ihrer Mitgliedstaaten hat sich für das offenkundige Verbrechen des Angriffskrieges vor einem internationalen Gericht verantworten müssen“ (S. 57ff.).
Ein spannendes und weniger bekanntes Thema ist die Kooperation der NATO mit rechten Terrororganisationen und die Existenz der NATO-Geheimarmee mit dem Codenamen „Gladio“, die gleich nach dem Ende des zweiten Weltkrieges von der CIA aufgebaut wurde und nicht nur in Italien, sondern in allen westlichen NATO-Ländern. Die Enthüllung der Existenz von Gladio führte 1990 in Italien zu einer Staatskrise. Der Schweizer Wissenschaftler Daniele Ganser trug in mehrjähriger Forschungsarbeit brisante Dokumente zum inszenierten Terror und der verdeckten Kriegsführung der Gladio-Geheimarmeen zusammen.
Zu den vielen bemerkenswerten Details, die die Autorin liefert, gehört auch ein Gespräch, das sie im Jahr 2011 mit dem 2017 verstorbenen legendären Sicherheitsberater der USA Zbigniew Brzezinski bei einem Besuch als Bundestagsabgeordnete im Weißen Haus in Washington führte. Hier bekräftigte er die These: „Eurasien ist das Schachbrett, auf dem sich auch in Zukunft der Kampf um die globale Vorherrschaft abspielen wird“ (S. 35ff.). In diesen Kontext passt auch aktuell die Expansion der NATO nach Asien: Zusammen mit Japan und Süd-Korea wird eine „Mini-NATO“ etabliert. Und die Autorin stellt fest: „Die NATO-Expansion nach Asien erinnert sowohl in ihrer geopolitischen Zielstellung als auch mit Blick auf die damit verbundenen Risiken erschreckend an die NATO-Osterweiterung“ (S. 85).
In Ergänzung zu diesen Expansions-Strategien entwickelt die NATO neue moderne Formen der Kriegsführung. Neben den fünf von der NATO benannten Kriegsschauplätzen Wasser, Land, Luft, Weltraum und Internet, wird die „Menschliche Sphäre“ als sechster Kriegsschauplatz aufgenommen und die kognitive Kriegsführung entwickelt. Dabei geht es um die „Soft Power“, im Gegensatz zur klassischen militärischen Gewalt. Letztlich will die NATO mit Propaganda und Manipulation die Deutungshoheit erlangen und dazu in die Gedanken und Gefühle der Menschen eindringen. Und das Buch behandelt auch diese modernen Formen der Kriegspropaganda, die sich in Rom, Riga und vielen anderen Städten Europas etabliert haben. Dazu gehört wie seit jeher die Dämonisierung des Feindes, der Kampf gegen Kriegsmüdigkeit und für Kriegstüchtigkeit.
Die Abrechnung mit der NATO enthält eine Unmasse an konkreten historischen Fakten. Für den bislang wenig Interessierten mit mehr, für andere mit weniger Neuigkeitswert. Manches ist in Vergessenheit geraten. Oder wer kennt die historischen Fakten, dass von 1989 zum Ende des Kalten Krieges bis zu Jahr 2007 die deutsche Sozialdemokratie noch die Überwindung der NATO als Programm hatte und der heutige Bundeskanzler Scholz als Stellvertretender Bundesvorsitzender der Jugendorganisation der SPD „Jusos“ offen für die Diskussion über einen NATO-Austritt war. Die Grünen forderten noch 1987 in ihrem Bundeswahlprogramm den Austritt aus der NATO.
Sevim Dagdelen lässt es sich nicht nehmen, im letzten Abschnitt ihres Buches fünf Vorschläge zum grundlegenden Wandel der internationalen Beziehungen mit einigen Erläuterungen zur Diskussion zu stellen: Zurück zur Diplomatie, zurück zum Völkerrecht, Mut zur Neutralität, zurück zur Abrüstung und den Wirtschaftskrieg beenden. Ein Resümee: „Anstatt mit der NATO weiter auf Eskalation zu setzen und damit die Menschheit in den Abgrund zu treiben, gilt es, die gegenwärtige existenzielle Krise des Militärbündnisses in Richtung eines wirklichen Systems kollektiver Sicherheit aufzulösen, das nicht gegen einen äußeren Feind gerichtet ist, sondern nach innen Wirksamkeit entfaltet“ (S. 118).
Die beiden Aussagen von Sevim Dagdelen am Ende ihres Buches sind wie in Stein gemeißelt:
„Das Streben nach Alternativen zur NATO ist Widerstand zu einer Weltkriegspolitik. Wir brauchen Frieden statt NATO.“
Sevim Dagdelen: Die NATO - Eine Abrechnung mit dem Wertebündnis
Westend Verlag
Taschenbuch, 128 Seiten
Erscheinungsdatum: 08.04.2024
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