Über das Buch „Im Moralgefängnis“ von Michael Andrick
Die deutsche Gesellschaft ist sehr krank, erkrankt an der Infektion Moralitis – so lautet die Diagnose von Michael Andrick. Er ist kein Mediziner, sondern promovierter Philosoph und als Publizist unter anderem in den Printmedien „Berliner Zeitung“, „Cicero“ und „Freitag“ unterwegs. Am 12. Februar ist sein neues Buch über die Krise der politischen Kultur in Deutschland im engagierten Westend Verlag erschienen. Andrick wählte für sein Buch den provokanten Titel „Im Moralgefängnis“ und liefert für die Inhaftierten auch gleich noch den Weg zum Ausbruch aus dem Gefängnis mit der Unterzeile. „Spaltung verstehen und überwinden“.
Ganz sicher interessant für den Leser ist die Entstehungsgeschichte des Buches, an die sich der Autor gut erinnert und darüber recht freimütig schreibt. Alles begann mit einer kurzen Kolumne im November 2022 in der Berliner Zeitung. „In diesem Text drückte ich mein Entsetzen über den politisch-moralischen Höllensturz der Pandemie-Politik aus.“ Und weiter: „Die sog. ‚Covid-Krise‘ war das ultimative Versagen unserer Zivilisation vor dem Ansturm medialer Panikmache in Verbindung mit skrupelloser, hochkorrupter Geschäftemacherei zwischen politischen und finanzoligarchischen Spielern sowie den internationalen Agenturen, die von ihrem Geld korrumpiert sind.“ Diese Erkenntnisse haben ihn, so Andrick, wie Steine im Schuh gedrückt und auf der Seele gelastet wie die Erinnerung an einen Schiffsbruch. Aber anstatt seine „schlimmsten Erlebnisse auszumalen, die Mythen und Lügen der beteiligten Parteien aufzuspießen und persönliches und institutionelles Fehlverhalten und Verbrechen anzuprangern“, hat er sich entschlossen, kein weiteres Abrechnungsbuch zu schreiben. Er entsann sich seiner Ausbildung als Philosoph und wollte gegen jedwede Gesinnungsdiktatur Partei ergreifen und auch zeigen, das war ihm besonders wichtig, was der Einzelne gegen die undemokratische Diskurskultur der Gegenwart tun kann. Den begrifflichen Schlüssel erkannte er in der Moralisierung und Demagogie. (1)
Schon in der Einleitung seines mit ausführlichen Anmerkungen und Quellenangaben versehenen Buches von 172 Seiten stellt er klar, dass es bei der vergifteten Diskussionskultur nicht nur um das Thema „Corona“ geht, sondern auch um die „heiklen und hitzigen Auseinandersetzungen um Flüchtlinge, Kriege, Klima“. Und er stellt hier und an vielen Stellen im Buch immer wieder die Frage: Warum eigentlich sollte die Vielfalt von Standpunkten überhaupt ein Problem sein? Und er bezeichnet es als Binsenweisheit, dass nur durch abweichende Sichtweisen etwas Neues erfahren und dazu gelernt werden kann.
In den ersten Kapiteln des Buches schildert der Autor die Situation in der Gesellschaft, die er schon durch die Kapitelüberschriften charakterisiert, aber auch gewissermaßen noch moderat einhegt. Da heißt es „Gemeinsam durch die Angst“ und Andrick beschreibt die Atmosphäre ängstlicher Verhaltenheit und das aufkommende Befürchtungsregiment und er ist bestürzt, in welche Abgründe angstgetriebene Politik die Gesellschaft stürzen kann (S.33). Im nächsten Kapitel „Spaltung lebt vom Mitmachen“ geht der Philosoph Andrick auf den Begriff der Spaltung ein und plädiert dafür, dass eine gelingende Demokratie die Verwaltung unzähliger Meinungskonflikte sei in einem knirschenden und quietschenden, aber eben friedlichen Gegeneinander (S.51). Und ein Resümee von ihm lautet: Das fälschlich als „gespalten“ betrachtete Land ist in Wahrheit eine Gesellschaft gestresster und sich gegenseitig Stress verursachender Menschen“ (S.52). Und zum Spalter werden ist in diesem Sinne eine Kommunikation-Erkrankung, die sich jeder zuziehen kann – die Infektion mit einem Virus, das nicht biologischer, sondern kultureller Natur ist (S.55).
Wer bei diesen und weiteren teilweise theoretischen Erläuterungen zum Kulturvirus Moralin, dem „Umstrittenmachen“ oder der Wahnwelt der Fundamentalisten noch darauf wartet, dass der Autor auch konkreter die Verantwortlichkeiten benennt, wird in den zwei abschließenden Kapiteln nicht enttäuscht. Während bei der Kritik am Bekenntniszwang und pädagogischen Sendung der Moralismus-Epidemie noch vom Autor als Antwort „Auslachen“ empfohlen wird (S.99), geht es schon im Abschnitt mit dem Titel „Volkserziehung im Moralgefängnis“ konkret und scharf zur Sache.
Hier wird nun für den Leser ein weites Feld eröffnet, um die alltäglich medial organisierten Kampagnen zu analysieren. Am Anfang steht das Dogma der „Demokratieförderung“, wo „schon das Konzept in einem offiziellen demokratischen Staat konfus und wunderlich ist“ (S.101). Der Gesetzentwurf der Bundesregierung für das Demokratiefördergesetz geht von dem Grundsatz aus, so Andrick, den Bertolt Brecht 1953 der DDR-Regierung nach ihrer Niederschlagung des Juni-Aufstandes ironisch andichtete: dass „das Volk // Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe // Und es nur durch verdoppelte Arbeit // Zurückerobern könne.“ Genau diese Haltung ist an der Begründung des Gesetzesentwurfs zur Demokratieförderung abzulesen: „Nicht die politischen Institutionen und Akteure, denen die große Mehrheit nicht mehr vertraut, sind das Problem der Republik; das Problem ist laut Gesetzesentwurf vielmehr die Bevölkerung.“ (S.102) Mit der Praxis der deutschen Demokratie waren laut ARD im Herbst 2022 noch insgesamt 51 Prozent zufrieden (West 54% Ost 34%). Laut Forsa vertrauten im Dezember 2022 dem Bundeskanzler 33%, seiner Bundesregierung 34%, den Parteien 17%. Der letzte Wert sank bis zum Sommer 2023 noch weiter bis auf stolze 9%. In dieser Lage wählt sich die Regierung ein neues Volk, ganz wie Brecht es vor 70 Jahren, allerdings spottend, vorschlug (S. 103). Dabei vergisst der Autor nicht zu erwähnen, dass der Bevormundungsstaat schon in der Merkel-Ära mit einem Heer steuerfinanzierter Hauptamtlicher der Volkserziehung zur Demokratie entstand. Ideologisch selektiv finanziert der Bund „Bürgeraktivitäten“, er kauft sich „staatlich geprüfte Status-quo-Jasager“ (S.105). Damit tut der Staat genau das, was „westliche Politiker - wenn es in anderen Ländern passiert – Staatspropaganda, Regime-Stabilisierung oder Stimmenkauf“ nennen.
Ganz aktuell wird das Buch in seinem Abschnitt „Die Fakten checken?“. Sehr ausführlich und geradezu genüsslich analysiert der Autor den Begriff Fakten (lateinisch facta - also Dinge, die getan oder hergestellt wurden, in diesem Sinne Tatsachen). Die Auffassung, Fakten seien ewig stabil und kontextfrei verfügbar, ist falsch. Faktenchecker sind mitnichten Diener der Wahrheit, sie überprüfen vielmehr Äußerungen und Meinungen darauf, ob sie die bevorzugte Weltinterpretation ihrer Sponsoren stützen. Dort wo die Interessen ihrer Auftraggeber nicht in Betracht gezogen werden oder diese sogar kritisiert werden, werden die Faktenchecker alle Register ziehen, um die handwerkliche Sorgfalt und journalistische Seriosität des Autors zu unterminieren, was in regelrechte Rufmordkampagnen ausarten kann. Eine solche Rufmordkampagne weist beispielsweise das Multipolar Magazin im Falle von Wolfgang Wodarg minutiös nach. Und dann bietet der Autor neben knallharter Kritik auch Formulierungen zum Schmunzeln: „So wenig, wie der Regenschauer den Regen schaut und der Weihnachtsmann die Nacht weiht, checkt ein ‚Faktenchecker‘ einfach ‚die Fakten‘“. Dagegen schränkt er den Meinungskorridor ein, ,,er betreibt tatsächlich Gesinnungsprüfung und Meinungsrepression“ (S.111).
Nur selten wird den derzeitigen Eliten in Deutschland in solcher scharf formulierten Weise eine Kritik vorgehalten. Da geht es um die Verstaatlichung der Zivilgesellschaft und die finanzielle Korrumpierung von Journalisten zum „Schutz und zur strukturellen Stärkung des Journalismus“, durch Impf-Werbekampagnen sowie eine im Jahr 2018 bekannt gewordene Barzahlung von fast 200 Journalisten aus Regierungsmitteln für Dienstleistungen aller Art. Dasselbe gilt für die institutionalisierte „Faktencheckerei“ (S.112). Und Andrick knüpft sich im Abschnitt „Hass und Hetze bekämpfen?“ den Begriff der Hassrede vor, der immer nur ein politischer Kampfbegriff sein kann. Und ernüchtert stellt er angesichts des vom Kanzleramt mitfinanzierten Verbandes der „Neuen Deutschen Medienmacher“ fest: Journalisten kontrollieren die Mächtigen, zumindest sollen sie das tun. „Medienmacher“ demgegenüber erstellen Medien, die etwas ganz anderes als Machtkontrolle betreiben, weil eben die Mächtigen sie finanzieren (S. 113). Übrigens wurde die erste Chefin des Verbandes, Ferda Ataman, später Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung.
Das Buch widmet sich auch ausführlich dem Thema „Gerechte Sprache sprechen?“ „Es handelt sich bei der ideologischen Sprachkorrektur um politische Heimtücke, die aus moralischer Niedertracht geboren ist und die in diktatorischem und totalitärem Geist ausgeübt wird. … Selbsternannte Sprachkorrektoren verhalten sich … entweder manipulativ oder dumm“, so das vernichtende Urteil von Andrick (S.118). In einer ganzen Reihe von Passsagen und Wertungen greift er auf bereits von ihm veröffentliche Artikel in Zeitungen und Zeitschriften zurück. Und manchmal spitzt er wie beim Thema „Totalitärer Geist contra Demokratie“ in einer Art und Weise zu, dass mancher Leser sicher etwas erschrecken wird: „Ob wir in Nordkorea oder Norddeutschland leben, entscheidet sich im Kulturzustand nur noch daran, wie weitgehend der öffentliche Diskurs durch konzentriertes Geld oder konzentrierte Macht oder beides ideologisch zugerichtet wird und wie weitgehend die Staatsgewalt bei Abweichungen auf Geist und Körper der Untertanen durchgreift“ (S.124).
Mit solchen Zuspitzungen im Text – und davon gibt es nicht wenige – will der Autor den Leser dazu bewegen, antidemokratische Verhaltensweisen wie Moralisierung und Demagogie, besser zu erkennen und mit demokratischer Gesinnung gegenzusteuern. Dafür nennt er vier Tugenden: Demokratie verlangt von uns Selbstvertrauen, Wissen-wollen, Toleranz und Disziplin.
Sein Abschluss-Kapitel nennt Andrick „Bedrohung und Befreiung“. Hier geht er auf eine Tendenz zur Moralisierung von Gemeinwohlfragen aus der Blockkonfrontation bis 1989 ein. Die international bekannten Autoren Noam Chomsky und Edward S. Herman nennen dieses Element in einem der Zensur-Filter des Mediensystems der USA, „Anti-Kommunismus“. Das Regime des Moralismus entpuppt sich mehr und mehr zum Diktat des Guten Menschen (S.148 ff). Diese Meinungs-Orthodoxie ist auch gegenwärtig noch aktuell und spielt im derzeitigen Konflikt der USA und der NATO-Länder mit Russland eine besorgniserregend wachsende Rolle. Hier will der „Gute Mensch“ eine differenziertere Diskussion in der Gesellschaft über das Kriegsgeschehen in der Ukraine unter strafrechtliche Verfolgung wegen Volksverhetzung stellen, sobald Diskussionsbeiträge die offizielle Leitgeschichte der Koalition der Guten hinterfragen oder gar als Lüge bezeichnen. Ein Manko aus der Sicht des Autors dieser Kolumne ist allerdings, dass im Buch von Andrick der Ausbruch aus dem Moralgefängnis der Kriegspropaganda gegen Russland, aufgefahren von den US-Geostrategie und der NATO in der deutschen Medienwelt, nicht ausreichend Platz gefunden hat. Schließlich ist die Heilung der Virus-Epidemie der Moralitis rund um das Schlachtfeld in Osteuropa im Atomzeitalter zu einem erstrangigen Auftrag des Überlebens der Menschheit aufgestiegen.
Welche Zukunftsaussicht bietet der Autor dem Leser? „Das fatale Regime des Moralismus, soweit es an uns selbst liegt, zu beenden.“ Und er schickt seine Hoffnung hinterher: Dem Regime des Moralismus müssen die Gefolgsleute abhandenkommen, dann zieht es sich schrittweise zurück. Und je mehr immunisierte Mitbürger Moralisierung und Demagogie zurückweisen, desto schneller schwindet ihr zerstörerischer Einfluss. „Etwas Besseres kann unserer moralitisgeschädigten Demokratie nicht passieren; etwas anderes darf ihr nicht passieren“ (S.159). Oder man kann die Zukunftsaussicht auch so formulieren: Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Michael Andrick: Im Moralgefängnis, Spaltung verstehen und überwinden
Westend Verlag Neu-Isenburg
1. Auflage 2024
留言