Ein vor fast 100 Jahren geschriebenes Buch hilft, Propaganda zu entlarven
Manchmal hat ein Verlag für das Revival eines älteren Buches eine glückliche Hand und ein besonderes Gespür. Ich spreche hier vom Westend-Verlag in Frankfurt/Main. Mit einer aktuellen Neuausgabe des Klassikers zur Kriegs Propaganda „Lügen in Kriegszeiten – kritische Betrachtungen“ aus dem Jahr 1928 treffen die Herausgeber den Nerv heutiger Zeit.
Der Autor Arthur Ponsonby (1871-1946) war britischer Staatsbeamter, Politiker, Schriftsteller und Pazifist. Sein Ziel war es, auf eine verantwortungsvolle Außenpolitik zu drängen und sich gegen den militärischen Einfluss auf Regierungen einzusetzen. Aber was kann uns heute ein fast hundert Jahre altes Buch eines Briten sagen, das sich mit dem Geschehen vor und im Ersten Weltkrieg beschäftigt und sich zudem vorrangig mit englischer Kriegspropaganda auseinandersetzt? Und was soll es deutschen Lesern vermitteln? Befindet sich die Bundesrepublik Deutschland als NATO-Mitgliedsland und engster Verbündeter der USA schon im Krieg mit Russland oder noch nicht?
Die deutschen Massenmedien drücken sich etwas um diese Frage herum. Die Neue Zürcher Zeitung versucht sich an einer Erklärung. Unter der Überschrift „Wann wird ein Staat zur Kriegspartei?“ kommt ihr Autor, der international hoch angesehene Jurist und Völkerrechtler Ralph Janik zu dem Schluss, dass man von einer „Mitkriegsführung“ ausgehen müsse, auch dann, wenn Angehörige der Bundeswehr nicht selber kämpfen, sofern allerdings ihre Unterstützungsleistungen auf ukrainischem Boden erfolgen. (1)
Auch wenn das die in der Ampelregierung glatt gebügelten Mitglieder, die übergroße Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag und die Sprachrohre in den gleich geschalteten Mainstream-Medien nicht zur Kenntnis nehmen wollen: Deutschland ist feste mit dabei, in der Ukraine Krieg zu führen. Egal, welche Haltung man nun dazu einnimmt, ob es sich um ein bisschen mehr oder weniger Kriegsbeteiligung handelt. Doch damit ist ein Wesensmerkmal dieser Kriegs-Zeiten erfüllt und eindeutig erkennbar, so wie sie der britische Schriftsteller und Pazifist eindrucksvoll aufgeschrieben hat. Auch die deutsche Bevölkerung wird in heutigen Kriegszeiten davon unerbittlich heimgesucht: von den Lügen in Zeiten des Krieges.
Die Herausgeber hatten in diesem aufrüttelnden historischen Band als Einstieg für den Leser eine sehr kluge Idee verwirklicht. Sie veröffentlichten vor der Einleitung und auf dem Rücktitel des Buches von Ponsonby die zehn „Prinzipien der Kriegspropaganda“ der belgischen Historikerin Anne Morelli aus dem Jahr 2001 (in deutscher Übersetzung aus dem Jahr 2004). Anne Morelli hat die Propagandatechniken in Kriegszeiten analysiert und in zehn Punkten zusammengefasst.
Am Anfang steht als erstes Prinzip: „Wir wollen keinen Krieg“, gefolgt von Nummer 2 „Das feindliche Lager trägt die alleinige Schuld am Krieg“ und weiter „Der Feind hat dämonische Züge“ bis zum zehnten Prinzip „Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter."
Spätestens an dieser Stelle werden sicher die olivgrünen Zeitgenossen mit und ohne Parteibuch meine Zeilen als kriegsmüden gefährlichen Pazifismus und vielleicht sogar als Beitrag der Fünften Kolonne Moskaus verdächtigen. Aber die Absicht des englischen Autors ist recht eindeutig und er hat sie in den ersten Sätzen der Einleitung unmissverständlich für alle Augen und Hirne formuliert: „Das Ziel des Buches ist es weder, neue Vorwürfe gegen Behörden oder Einzelpersonen zu erheben, noch eine Nation mehr als eine andere der Täuschung zu bezichtigen. Unwahrheiten sind eine anerkannte und extrem nützliche Waffe bei der Kriegsführung und jedes Land setzt sie bewusst ein, um die eigene Bevölkerung zu täuschen…Die unwissenden und unschuldigen Massen in dem Land sind sich zu der Zeit nicht bewusst, dass sie getäuscht werden und wenn alles vorbei ist, werden die Unwahrheiten nur vereinzelt erkannt und aufgedeckt.“
So die ersten Sätze von einem Autor aus dem Land der Siegernationen im Ersten Weltkrieg. Und dann setzt er mit einem Ton von Pessimismus fort. „Wie wir alle wissen, wird nicht nur in Kriegszeiten gelogen. Der Mensch, so wurde gesagt, ist kein ‚wahrheitsliebendes Tier‘, doch ist seine Gewohnheit zu lügen nicht annähernd so außergewöhnlich wie seine erstaunliche Bereitschaft zu glauben. Tatsächlich ist es die menschliche Leichtgläubigkeit, die Lügen aufblühen lässt.“ (S. 11) Und dann schlägt der englische Politiker mit einer Verve seine Thesen und Beispiele der Kriegslügen öffentlich an die Wände europäischer Regierungshäuser, fast wie vor mehreren hundert Jahren Martin Luther seine Thesen gegen Ablasshandel und Missbrauch des Glaubens an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg nagelte.
Und Arthur Ponsonby empfindet es als nützlich, schon im Zeitraum des sogenannten Friedens vor dem Einsatz der Waffe der Unwahrheit zu warnen. „Mit einer Warnung vor Augen ist die Allgemeinheit vielleicht eher auf der Hut, wenn die Kriegswolke das nächste Mal am Horizont erscheint, und weniger geneigt, die Gerüchte, Erklärungen und Behauptungen, die für ihren Konsum verbreitet werden, als Wahrheit zu akzeptieren.“ So könne es sich die einseitige Kriegs-Argumentation nicht leisten „dem Volk, gegen das sie zu kämpfen beschlossen hat, in irgendeinem Punkt auch nur das geringste Maß an Recht oder Vernunft zuzugestehen.“ Und weiter räumt der Autor ein, dass ein nur kurzer Moment des Nachdenkens jede vernünftige Person davon überzeugen würde, dass solch eine offensichtliche Einseitigkeit nicht der Wahrheit entsprechen kann. Und trotzdem werde jede Menge an Unsinn und Schwindel in allen Ländern unter dem Namen Patriotismus (heute heißt das in Neusprech „Werte“) verbreitet. Und der Autor findet auch eindrucksvolle Bilder zu den verharmlosenden Beteuerungen führender Staatsmänner jeder Nation, sie wollen keinen Krieg und vergleicht sie mit Menschen, „die Petroleum in dem Wissen in ein Haus schütten, dass sie ständig Streichhölzer entzünden und trotzdem behaupten, sie wollten keinen Großbrand verursachen.“ (S.13) Wer denkt da nicht an den Konflikt in der Ukraine im Donbass, der seit dem Putsch in diesem Land im Jahr 2014 schwelt.
Und noch in der Einleitung des Buches werden dann die verschiedenen Arten von Lügen aufgelistet, die genial erdachten vorsätzlichen Lügen, dann die Lügen, die nicht geleugnet werden, auch wenn es an Beweisen mangelt, vorsätzliche Fälschungen von Fotos und bewusste Übertreibungen. „Lügen über Gräueltaten waren die beliebtesten von allen…kein Krieg kommt ohne sie aus. Die Diffamierung des Feindes wird als patriotische Pflicht angesehen. (S. 18) Leider gibt es haufenweise Beispiele auch aus der jüngsten Vergangenheit. Im Rahmen einer seit Jahren laufenden Kontroverse um einen angeblichen Giftgasangriff in der syrischen Stadt Douma im Jahr 2018 hat die britische BBC nun eingestanden, diffamierende Aussagen über Kritiker der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) erfunden und journalistische Standards verletzt zu haben. (Telepolis 8.9.2021; s. a. Karin Leukefeld (2))
Und schließlich kommt der Autor – auch angesichts der Millionen Kriegstoten im Ersten Weltkrieg – zu der etwas blauäugigen Schlussfolgerung: „Wenn von Anfang an die Wahrheit gesagt würde, gäbe es weder Grund noch Willen zum Krieg.“ Und fährt dann fort: „In Kriegszeiten ist das Unterlassen des Lügens eine Fahrlässigkeit, das Anzweifeln einer Lüge eine Ordnungswidrigkeit, die Bekundung zur Wahrheit ein Verbrechen.“ Habe ich jetzt mit diesem Text in Deutschland schon eine Ordnungswidrigkeit begangen?
Der englische Autor bekennt, dass sein Buch nichts Sensationelles an sich hat, weil die allermeisten aufgeführten Fälle und die dafür Verantwortlichen bekannt sind und ist dennoch immer noch auf das Höchste empört „wie die ahnungslose Unschuld der Massen in sämtlichen Ländern gnadenlos ausgenutzt wurde.“ Und er prophezeit, dass keine opferbereiten Helden dem Ruf seines Landes folgen, wenn sie einmal die verseuchten Quellen entdeckt, aus dem dieser Ruf ertönt und den gigantischen Finger der Unwahrheit erkennt, der auf das Schlachtfeld winkt.“ (S.24 ff.)
Der Hauptteil des Buches von 150 Seiten liefert nun eine Überfülle von entlarvten Kriegs-Lügen, die den Feind zum allein Schuldigen am Krieg machen (S. 40ff.) Und darauf folgt der nächste Schritt: die Personifizierung des Feindes, also damals der verbrecherische deutsche Kaiser verknüpft mit der Forderung, ihn vor Gericht anzuklagen. (S.61ff.) Und wer heutzutage in Deutschland der Kriegsverbrecher und Das Böse schlechthin ist und vor Gericht in Den Haag stehen muss, ist täglich zu lesen und im Stundentakt zu hören. Vorrangig kommen auch Kinder und junge Mädchen in Gräuelgeschichten vor, die zuallermeist, wie der Autor nachweist, der Fantasie entsprangen sowie wie in der Gegenwart das Beispiel der entlassenen Menschenrechtsbeauftragten Ljudmyla Denissowa aus der Kiewer Regierung, weil sich ihre erfundenen Kriegslügen letztlich für die Propaganda als kontraproduktiv erwiesen. Und der englische Autor zitiert eine neutrale Zeitung Nieuwe Courant, die in Den Haag 1916 folgendes schrieb: „Die papierne Kriegspropaganda ist ein Gift, das Außenstehende nur in geringen Dosen vertragen. Wenn die Kriegführenden es weiterhin verabreichen, wird die Wirkung das Gegenteil von dem sein, was man erwartet.“ (S. 120)
Der englische Pazifist, der in erster Linie energisch vor der eigenen Haustür kehrt, hat sich auch den ausländischen Kriegslügen gewidmet, beim Kriegsgegner Deutschland sowie auch bei den Verbündeten in Frankreich, USA und Italien. Arthur Ponsonby bewertet auch kurz die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges. So bezeichnet er die Erklärungen der britischen Regierung, dass als Ergebnis des schrecklichen Krieges kein neues Territorium dazu gewonnen wurde, als Heuchelei. Dazu wird in einer Tabelle akribisch der Landgewinn der Eroberung aufgerechnet: insgesamt 1.415.929 Quadratmeilen. Keine schlechte Bilanz, so der Autor. Im gleichen Atemzug beleuchtet er sehr kritisch den Verlauf und die Ergebnisse des Versailler Vertrages, der die Saat für den nächsten Krieg in Europa legte.
„Lügen in Kriegszeiten“ ist zuallererst ein politisches Buch. Auch wird es historisch interessierte Leser finden. Es ist ein gefährliches Buch. Gefährlich für all jene, die meinen, dass die Schlachtfelder des Krieges unvermeidlich und zur Erlangung des Friedens nötig sind.
„Wer aus der Geschichte nicht lernt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ Viele Schriftsteller, Philosophen und Politiker wie George Santayana, Edmund Burke, Winston Churchill oder Georg Wilhelm Friedrich Hegel haben diese Weisheit der Menschheit hinterlassen. Allerhöchste Zeit, sie zu beherzigen.
(1) „…andere Unterstützungsleistungen, ob (massive) finanzielle Mittel, logistische Hilfe oder selbst Waffenlieferungen, gelten – laut herrschender Ansicht – für sich genommen wiederum nicht als Beteiligung an einem Krieg … Dieser rechtlich gesicherte Boden wird verlassen, wenn Waffenlieferungen gemeinsam mit Ausbildung und/oder dem Bereitstellen von militärischen Informationen, etwa zu Aufenthalt und Bewegungen gegnerischer Truppen, erfolgen. Allgemein gilt: Je intensiver die Unterstützung ist, je mehr Handlungen gleichzeitig vorliegen und je stärker ein unmittelbarer Konnex zu Kampfhandlungen besteht, desto eher muss man von «Mitkriegsführung» ausgehen – auch dann, wenn Angehörige der Bundeswehr nicht selber kämpfen. Sofern ihre Unterstützungsleistungen auf ukrainischem Boden erfolgen, können sie – nach dem «ius in bello» – legitime Angriffsziele darstellen.“ Ralph Janik, Wann wird ein Staat zur Kriegspartei? Neue Zürcher Zeitung 05.05.2022;
(2) Karin Leukefeld „Von Syrien bis Aleppo: dieselben Regeln der Kriegspropaganda"
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