Gast-Autorin Ingrid Müller-Mertens besuchte die Willi-Sitte-Retrospektive im Kunstmuseum Moritzburg in Halle (Saale)
Großformatige Bilder von Willi Sitte im Kunstmuseum Moritzburg in Halle (Saale)
Auch wenn die Person Willi Sitte (1921- 2013) wegen seiner einflussreichen Funktionen im DDR-Kulturbetrieb bis heute umstritten ist – der Maler Sitte gilt als einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Eine Sichtweise, die sich in der Kunstrezeption immer mehr durchsetzt und die längst überfällige Retrospektive seiner Werke im Kunstmuseum Moritzburg in Halle (Saale) – seinem langjährigen Arbeits- und Wohnort – konnte das mehr als eindrucksvoll belegen.
Dabei habe man die Ambivalenz seiner Persönlichkeit durch sehr aufwändige Recherchearbeit beleuchtet, sagt der Kunstexperte Carsten Probst. Thomas Bauer-Friedrich, der Direktor des Kunstmuseums Moritzburg, spricht von fünf Jahren Vorbereitungszeit. Auch mit der Unterstützung von Sittes Ehefrau konnten viele private Unterlagen dazu genutzt werden.
Willi Sitte: Chemiearbeiter am Schaltpult, 1968 Willi Sitte: Rocksänger, 1981
Die Ausstellung „Sittes Welt. Willi Sitte: Die Retrospektive“ besteht aus zwei Teilen: Zum einen einer fast chronologischen Hängung der Werke, mit der man Sittes künstlerische Entwicklung „mit allen Brüchen und Widersprüchen“ zeige, so Probst. Man erkenne Einflüsse von Picasso und der neuen Sachlichkeit – und die Entwicklung hin zu sozialistischen Auftrags- und Programmbildern. Zum anderen sind in einem großen Ausstellungsraum ein Dutzend seiner großformatigen Programmbilder der 50er bis 80er Jahre zu sehen.
Willi Sitte: Die Überlebenden. 1963
„Wir müssen beginnen, ihn neu zu sehen“, sagte Co-Kurator Paul Kaiser. Über den Maler Sitte gebe es viele Meinungen, aber „wenig Wissen“. Man finde kaum wissenschaftliche Erkenntnisse zu seinem Wirken. Die absolute Gleichsetzung Sittes als Repräsentant des DDR-Regimes habe ihm nach der Wiedervereinigung große Ausstellungen verhagelt, erklärte Kaiser. Dabei sei Sittes Kunst von internationaler Bedeutung.
„Wer sich dem verschließt, hat auch unsere Kunstgeschichte nur anteilig rezipiert“, sagte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) bei seinem Rundgang, der die Sitte-Ausstellung quasi zur Chefsache gemacht hatte. Der Maler sei auch ein Abbild der Widersprüchlichkeit des vergangenen Jahrhunderts – Widersprüche, die viele historische Personen auszutragen hätten. Wer eine solche Ambivalenz ignoriere, werde vieles „der Gesamtproblematik des Zusammenwachsens nicht verstehen“, betonte Haseloff.
Die Ausstellung auf etwa 1500 Quadratmetern versteht sich den Kuratoren zufolge als Beitrag zur Aufarbeitung „der als Staatskunst apostrophierten Kunst Sittes. Aber 30 Jahre nach der friedlichen Revolution auch als wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der Kunst in der DDR.“ Das erste Mal seit 1986 ermöglicht diese Ausstellung eine umfassende Wiederbegegnung mit den Originalen von Sittes Werken seit den Anfängen um 1940 bis in die frühen 2000er Jahre.
Nach über vier Monaten mit über 20.000 Besuchern ist die eindrucksvolle Werkschau am 6. Februar 2022 zu Ende gegangen. Dem überwältigenden Eindruck von Sittes umfangreichem, teilweise monumentalem Oeuvre konnte sich wohl kein Besucher verschließen, wie immer man seine Werke auch betrachten und interpretieren mag.
Willi Sitte: Memento Stalingrad, 1961
Der sachliche und hochinteressante Blick auf seine Person, sein Leben und Wirken, wie auch die Widersprüchlichkeiten in seiner politischen Präsenz und letztlich die Tragik der Missachtung seines Schaffens, vermitteln den geradezu exemplarischen Eindruck einer letztlich sehr berührenden Künstlerpersönlichkeit in den einschneidenden gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
„Fühlen Sie sich ungerecht behandelt?“, fragte 1996 ein MDR-Reporter den Maler, der nach 1989 erleben musste, wie viele seiner Werke aus Galerien und Museen verbannt wurden. „Ich denke, wie ich früher auch dachte und sage meine Meinung, ebenfalls wie früher“, antwortete Sitte. Geblieben sei ihm das für ihn Wichtigste – die Kunst. Und malen werde er tatsächlich „bis zum letzten Atemzug“. Und genau das hat er auch getan. Am 8. Juni 2013 ist Willi Sitte in Halle gestorben.
Es wurde höchste Zeit, einem der bedeutendsten deutschen Künstler des 20. Jahrhunderts den Respekt und die Anerkennung zu erweisen, die er verdient hat.
Zusätzlich zum 536-seitigen Katalog zur Ausstellung haben die beiden Kuratoren der Ausstellung Thomas Bauer-Friedrich und Paul Kaiser mit einer zweiten ausstellungsbegleitenden Publikation die erste wissenschaftlich recherchierte Biografie über den Künstler vorgelegt. Auf 256 Seiten schildern die Autoren in 20 reich bebilderten Kapiteln die Lebensgeschichte des Künstlers vom Bauernsohn zum Präsidenten des Verbands Bildender Künstler und zu einem der mächtigsten Kunstfunktionäre in der DDR wie auch dessen tiefen Fall nach der Wiedervereinigung beider deutschen Staaten 1990.
(Thomas Bauer-Friedrich, Paul Kaiser: Willi Sitte. Künstler und Funktionär. Eine biografische Recherche, Dresden/Halle (Saale) 2021, ISBN: 978-3-96502-021-4)
http://berliner-umschau.de/kultur/ich-male-bis-zum-letzten-atemzug-willi-sitte-retrospektive-in-halle/
Fotos: Ingrid Müller-Mertens
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