Über eine Deutschlandreise im Wohnmobil mit britischem Reiseführer
Hotels und Gaststätten und der gesamte Tourismus ächzen unter der Corona-Politik.
"Die Lage im Gastgewerbe verschlechtert sich von Tag zu Tag ... Viele Betriebe im Gastgewerbe befinden sich in größter Not",
sagt DEHOGA-Präsident Guido Zöllick bei Tageskarte-news. Aber wo unzählige Verlierer sind, gibt es auch Gewinner. Dazu zählen nicht nur die laut klingelnden Kassen der globalen Pharmaindustrie und von online Handels-Giganten, sondern auch ein kleiner Zipfel der Tourismus- und Reise-Industrie. Die Camping- und Caravan-Industrie boomt.
Die Zahl der Wohnmobile hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt und liegt derzeit bei 674.697 Fahrzeugen. Wird der deutsche Urlauber auf der Flucht vor dem Virus künftig seinen Urlaub im Wohnwagen und Zelt auf Campingplätzen verbringen und wenigstens dieser Branche eine Konjunktur bescheren?
Diesem neuen Reise-Trend folgend sind nun auch Titel auf dem Buchmarkt in die Spur gegangen. Ein bemerkenswert originelles Exemplar ist der Reiseführer mit dem etwas sperrigen Titel: "Man reise vorzugsweise mit der eigenen Bettdecke." Autor ist Christian Eisert, ein Comedy- und Gagschreiber für Fernsehformate wie Schmidt und Pocher, der mit Satire-Bänden und so genannten erzählerischen Sachbüchern bekannt wurde. Seine geniale Buchidee: Vor 150 Jahren "erfand" der Engländer John Murray die Reise-Handbücher und beschrieb damals seinen Landsleuten bei Besuchen in Deutschland in zwei Büchlein solche exotischen Reiseziele wie Bayern oder Baden-Württemberg, Brandenburg und Sachsen. Murray lieferte mit seinem Ratschlag an die englischen Leser auch die Titelzeile für das aktuelle Buch. Er war damals mit der Postkutsche Typ Kastenwagen mit einer Länge von 4 Metern und einer Leistung von 2-4 PS unterwegs. Christian Eisert fährt heute in einem Knaus Boxlife 600 Typ Kastenwagen /CUV mit einer Länge von 5,99 Metern und einer Leistung von 140 PS. Er verfolgt die ausgiebigen Reiserouten von Murray und blendet regelmäßig die übersetzten Kommentare des Engländers ein. Natürlich bewegt sich Eisert vorrangig auf Bundes- und Landesstraßen. Und der heutige Autor spürt auch dem Reisegefühl mit den Einschränkungen der früheren Kutschen nach. Denn er ist, wie er bekennt, erstmalig in seinem Leben mit so einem Wohnmobil unterwegs, einer Mischung aus Transporter und fahrendem Wohnzimmer mit Kochnische und Miniklo.
Der neue Reisetrend verbleibt also in heimischen Gefilden. Die Weite vom Outback in Australien, die berühmte Route 66 in der USA oder die Pisten in Patagonien bis Feuerland stehen erst einmal hinten an. Jetzt geht es auf den ersten hundert Seiten von Berlin nach Danzig, dann nach Köln. Von dort weiter nach Koblenz und dann ist Frankfurt am Main angesagt. Das klingt erst einmal nicht ganz so spannend, auch wenn weitestgehend die Autobahnen gemieden werden können. Doch Eisert, der in die Rolle des Reiseführers schlüpft, gibt ein wichtiges Credo für seine Tour aus.
"Reisen heißt nicht allein, einen Ort zu erreichen. Ihn zu besichtigen. Ihn abzuhaken. Reisen heißt in gleichem Maß, fremde Kulturen, fremde Menschen kennenzulernen." (S.35 ff.)
Wie wahr. So kann der junge Murray in Weimar stolz berichten, dass ihm "ein Treffen mit Goethe, dem großen Dichter und Philosophen, ermöglicht wurde, um mit dem rüstigen alten Mann ein persönliches Gespräch zu führen". Währenddessen schildert der heutige Autor hier vor Ort auf dem Campingplatz seine Begegnungen mit Dauercampern. Sie verlaufen für den Autor zuallermeist wenig unterhaltsam ab, und so bleibt genügend Platz auf den Seiten, um die CUV-Bausätze im Kastenwagen zu beschreiben und den Wohnmobil-Alltag zu schildern. Es gibt Probleme mit der Bettung, der Toilettengang ist beim ersten Ausprobieren so richtig kompliziert, das Klo, dessen Behälter ständig geleert werden müssen, heißt Hygieneraum, wo alles sehr eng ist. Na so was. Muss man das wissen? Und nachts brummt der Kühlschrank vor sich hin. Diese und weitere Informationen zum Wohnmobil und Camping sind sicher hilfreich für alle, die mit dem Gedanken spielen, sich solch ein mobiles Urlaubsgerät zuzulegen. Die Experten raten sowieso, zunächst per Ausleihe alles reichlich zu testen, da die Preise etwa einem Mittelklassewagen entsprechen.
Ein großer Vorzug des Buches besteht darin, dass die heutige Tour mit dem Wohnmobil eine große Zahl von politischen und kulturhistorischen Stationen erreicht und dazu Informationen liefert. Dazu zählen die frühere Grenzübergangsstelle Helmstedt Marienborn (S. 42), unzählige Kirchenbauten wie der Dom in Paderborn (S.67), das Doppelstockgotteshaus in Schwarzrheindorf (S. 78) oder die Apollinaris-Kirche mit der Geschichte des heiligen Apollinaris, der dem Mineralwasser auf einer Quelle bei Bad Neuenahr seinen Namen stiftete. Es wird eine bunte Melange serviert. Auch in Wiesbaden wird ein Stopp eingelegt, in der "Hauptstadt des Herzogtums Nassau mit 9000 Einwohnern", so schreibt Murray. Und das Fazit von Eisert: Früher war Wiesbaden die Stadt der Reichen und Dienstboten, heute ist es die Stadt der Regierenden und Dienstleister. (S 117)
Heute durch Deutschland reisen und dann noch mit englischer Reiseliteratur aus dem 19. Jahrhundert, heißt "regelmäßig auf die Spuren dreier Kriege zu stoßen. Außer Sichtbarem bestehen die Spuren dieser Zeiten in Verschwundenem. Am präsentesten ist uns, was im Zweiten Weltkrieg verschwand, selbst wenn es hie und da wieder im alten Gewand aufgebaut wurde." (S.155) Diesen oft flächendeckenden sinnlosen Zerstörungen gegenüber erscheint eine Kanonenkugel im Giebel des Goldenen Löwen, die auf Memmingen 1647 niederging, eher als Sehenswürdigkeit für Touristen. Wobei der Dreißigjährige Krieg, geführt von sieben Nachbarländern auf deutschem Boden, ungeheure Opferzahlen unter der Bevölkerung forderte.
Da die Tour vom Wohnmobil auf den Spuren von Murray ganz vorrangig über Landstraßen führt, muss Autor Eisert seine Leserschaft nicht mit den Zerstörungen der Infrastruktur behelligen, die aktuell besonders Brücken auf Autobahnen betreffen. Durch fehlende Investitionen und Anwachsen besonders des Schwerlastverkehrs eine wachsende Bürde auch für den Inland-Tourismus.
Die nächste Station ist Augsburg und hier wird die Aufmerksamkeit des Lesers von beiden Reiseführern auf Schäden an der deutschen Kultur aus jüngster Zeit gelenkt. Murray zählte in seinem ersten Satz die Hotels in Augsburg auf, darunter "Drei Mohren (3 Moors) gut, angemessen und komfortabel, große Zuvorkommenheit". Es existiert nicht mehr, denn nach einer stolzen 500jährigen Geschichte trägt es einen neuen Namen. Eisert verabredet sich mit dem Augsburger Historiker Dr. Thomas Wiercinsky, mit dem er im Gästebuch dieses ehrwürdigen Hotels blätterte. Richard Wagner, Max Raabe, Goethe, Zar Nikolaus und Nina Hagen waren da. Beethoven und Mozart war dieses Prestige-Haus zu teuer. Warum es Aktivisten gelang, mit cancel culture den legendären Hotelnamen Drei Mooren zu tilgen, konnte der Historiker auch nicht erklären. Zumal das Hotel nach drei abessinischen Mönchen benannt war, die im 15. Jahrhundert hier Zuflucht fanden. Der traditionelle Schriftzug des Hotels wurde im Oktober 2020 abgenommen. Jetzt heißt das Hotel Maximilian‘s nach der Straße, in der es steht. (S. 160) Kein Einzelfall. Nicht weit entfernt in Dinkelsbühl lautete von Murray die Gasthausempfehlung "Drei Mohren". Jetzt steht am gelben Giebel des alten Gasthauses "Metzgerei Wießmeier" (S. 194)
Die Tour führt weiter von Nürnberg nach Dresden, es wird die Wagner-Stadt Bayreuth gestreift und Chemnitz besichtigt und schließlich sogar Hamburg mit seiner neuen Elbphilharmonie erreicht. Schlitzohrig referiert Eisert das Gespräch einer Schülergruppe mit ihrer Lehrerin, die fragt, ob jemand den Preis des Bauwerks sagen kann. Und genüsslich zitiert er die Antworten der Schüler: hunderttausend Euro, eine Million, fünfzig Millionen...? Darauf die Lehrerin: Es sind 866 Millionen, fast eine Milliarde Euro. Da fällt den Schülern nur noch die Antwort ein: "Kein Scheiß?"
Eisert ist das ganze Buch, 263 Seiten lang, als Alleinfahrer unterwegs, bis auf ein knappes Dutzend Seiten, da platziert er eine Freundin auf dem Beifahrersitz. So führt er die meiste Zeit im Auto Dialoge mit der Frau Navi, mit der er nach Herzenslust auch schimpfen kann. Eine Aufführung für den Psychologen.
Ist dieses Buch auf Reiserouten britischer Reiseführer des 19. Jahrhunderts eine Werbung für den Urlauber, ins Wohnmobil zu steigen? Für den Campingfreund ganz sicher. Für all jene, die an Pensionen, Ferienhäuser und Hotel gewöhnt sind, eher nicht.. Für die ist der Charme vieler Campingplätze samt Camping-Nachbarn und Campingplatzeignern nicht die groß angekündigte Freiheit in den Ferien. Sorry für die Caravan-Industrie. Auf jeden Fall macht diese Deutschlandreise richtig neugierig, sich im eigenen Land näher umzusehen.
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