Die Industrie-Region in Nordfrankreich um Lille und Calais präsentiert sich mit neuem Gesicht
Museum im Schwimmbad in Roubaix
Nord-Pas-de Calais im Norden Frankreichs, an der Grenze zu Belgien, gilt seit jeher als Region des Bergbaus und der Textilindustrie. Abraumhalden, Fördertürme und ausgedehnte Bergarbeitersiedlungen sowie große Backsteingebäude früherer Textilfabriken prägen das Bild einer vorwiegend flachen Landschaft. Doch die große Zeit der Kohle- und Textilindustrie ist bereits seit Jahrzehnten abgelaufen. Und es begann der Wandel hin zu einer kreativen Industriekultur, die nach und nach auch Touristen anzieht.
Marktplatz von Lille
Gewissermaßen den Startschuss gab die Hauptstadt der Region Lille. Sie konnte sich im Jahr 2004 mit dem Titel Kulturhauptstadt Europas schmücken und viele kulturelle Aktivitäten ins Leben rufen. Mittlerweile hat die UNESCO diese Industrielandschaft sowie ihr belgisches Pendant 2012 in die Liste der Welt-Erbestätten in der Kategorie „sich entwickelnde und lebendige Kulturlandschaften“ aufgenommen. Damit wurde der außergewöhnliche Wert dieser Landschaft mit seiner Industriegeschichte gewürdigt.
Das Museum im Schwimmbad
Die UNESCO hat damit wie die Schriften von Emile Zola an die ursprüngliche Geschichte der Arbeiter erinnert, die in der Welt von heute aus den Minen und Textilfabriken verschwunden sind.
Museum La Piscine im Schwimmbad
Zu dieser Geschichte gehört auch das Schwimmbad in Roubaix im Art Deco Stil der 30er Jahre, das recht gut die Atmosphäre der vergangenen Epoche vermittelt. Es befand sich auf Fabrikgelände direkt neben den Fabrikgebäuden und wurde errichtet, weil der überwiegende Teil der kleinen Häuser der Textil-Arbeiter und ihrer Familien ohne Badezimmer und fließendes Wasser auskommen musste. Nachdem das Schwimmbad 1985 wegen Einsturzgefahr geschlossen werden musste, kam die Rettung des herrlichen Baus durch eine geniale Idee. Im Jahr 2001 eröffnete „La Piscine“, das Museum im Schwimmbad. Hier wird jetzt eine große Sammlung von Industrie- und Textildesign sowie Malerei aus dem 19. und 20. Jahrhundert präsentiert. Darunter befindet sich eine Reihe von Künstlern aus der Region wie beispielsweise Henri Matisse und solche Berühmtheiten wie Pablo Picasso. Im Zentrum des mehrstöckigen Gebäudes befindet sich ein schmales Wasserbecken. An seinen Längsseiten stehen Skulpturen Spalier. In der oberen Etage stellen Mode-Designer und Textiliengestalter ihre Arbeiten aus. Der Entwurf des „Museums im Schwimmbad“ stammte vom Architekten Jean-Paul Philippon, der auch am Bau des Museé d`Orsay in Paris beteiligt war.
Museum La Piscine Schwimmbad mit malender Kindergruppe Ausstellung von Mode-Designern
Aus Brauerei entsteht Kulturhaus
Ein weiteres Beispiel des neu entstandenen Kulturlandes in Nordfrankreich ist in Lille im Arbeiterbezirk Wazemmes zu finden. Hier wurde das Gebäude einer ehemaligen Brauerei aus dem 19. Jahrhundert in ein Kulturhaus umfunktioniert.
Maison Folies in Lille
Mit dem Rückenwind der Ernennung von Lille zur Kulturhauptstadt entstand das Maison Folies, in der französischen Sprache früherer Zeit bedeutete das so viel wie ein Angebot der Unterhaltung für den gehobenen Stand. Heute wendet sich Maison Folies in Moulins an alle Einwohner der Stadt. Jetzt wird an diesem Ort nicht mehr Bier gebraut, sondern jede Menge Kultur ausgeschenkt. In kleinen Bühnenräumen und einem größeren Veranstaltungssaal, in Ausstellungsräumen und vielen Workshops. Im Innenhof finden Open-Air-Konzerte statt. Ganz in der Nähe befindet sich ein traditioneller in ganz Frankreich bekannter Trödelmarkt, der viele Leute auch hierher führt und für gute Besucherzahlen sorgt.
Stadtentwickler Dendievel
Stanislas Dendievel, Stadtentwickler in Lille resümiert: „Aus der industriellen Stadt Lille ist heute eine Kulturstadt geworden. Viele ehemalige Gebäude aus der Ära der Textilindustrie sind rekonstruiert. Aus Webereien und weiteren Textilfabriken entstanden Theater, aber auch Schulen und Wohnungen.“ Immerhin soll das Kulturbudget der Stadt bei mehr als zehn Prozent liegen, nicht wenig für eine Region, die als arm gilt und derzeit durch eine hohe Arbeitslosigkeit von fast 20 Prozent gebeutelt ist. Ebenfalls in Lille mauserte sich aus einem großen Depot für Textilwaren mit Bahnanschluss das Gare Saint-Sauveur. Hier ist ein Ausstellungs-Ort für moderne Kunst entstanden. Bis Ende des Jahres werden hier die beiden chinesischen Künstler Sun Yuan und Peng Yu aus Bejing mit provozierenden Arbeiten präsentiert.
Das ehemalige Brauereigebäude Maison Folies
Die Spitze von Calais
Im Hafen von Calais
Auch die Hafenstadt Calais, an der engsten Stelle des Ärmelkanals gelegen, kann mit beeindruckender Industriekultur aufwarten.
Hier wurde im Jahr 2009 das internationale Zentrum für Spitze und Mode eröffnet. An ein Ziegelsteingebäude einer ehemaligen Spitzenmanufaktur setzten Architekten einen modernen Anbau mit einer doppelt gewölbten Glasfassade.
Im Spitzen-Museum
Bei einem Rundgang durch das Museum erfährt der Besucher vieles zur Herstellung der berühmten „Spitze von Calais“, die gemeinsam mit den Webstühlen und Webmaschinen englischer Hersteller die Weltmärkte eroberte. Hocheffiziente Maschinen konnten schon in 19. Jahrhundert abertausende Spitzenklöppler ersetzen. Mittlerweile sind von den zehntausend Arbeitern gegenwärtig nur noch 800 für die Spitze als Luxus- und Modeartikel tätig.
Die weltbekannte Spitze von Calais
Das Museum agiert allerdings zugleich auch als Veranstalter für Textilworkshops zu modernen Herstellungsverfahren, die mit Ätz- und Pressverfahren arbeiten und natürlich auch zum Design der Produkte. Unterschiedliche Ausstellungen und Kulturprogramme sorgen zusätzlich dafür, dass das Thema Spitze auch Touristen anspricht.
Denkmal "Die Bürger von Calais" von Rodin auf dem Rathausplatz von Calais
Der Louvre in Lens
In der Bergbaustadt Lens befindet sich der Besucher mittendrin in der von der UNESCO gewürdigten Kulturlandschaft einer Industrieregion auf 120 Kilometer Länge. Das wird ganz augenscheinlich im Bahnhof von Lens.
Der Bahnhof von Lens
Er wurde während des 1. Weltkrieges total zerstört und dann von den Kohlebaronen mit viel Geld neu im Art Deco Stil der 20er Jahre wieder errichtet. Beim genaueren Hinsehen entdeckt man, dass der Bahnhof die Form einer Dampflokomotive besitzt. Große Türen erscheinen wie Räder und ein Turm wie der Schornstein der Lokomotive.
Vom Bahnhof führt der Weg über die Trasse einer alten Loren-Bahn zum ehemaligen Zechengelände Nummer 9 und zur eigentlichen Sensation. Das berühmte Museum Louvre aus Paris hat sich entschieden, hier auf dem Zechengelände eine Außenstelle, einen weiteren Louvre, zu errichten. Die Wahl dieses Standorts ist auch ein Stück Wiedergutmachung für eine Region, die mit ihrer Steinkohle lange für den Reichtum Frankreichs sorgte, als Schlachtfeld im 1. Weltkrieg geschunden und nach der Schließung der Zechen für viele nur grau, langweilig und arm erschien. Schon allein die Architektur des neuen Museums ist allemal ausreichend, dass der kleine Louvre einen herausragenden Platz in den Reiseführern einnimmt. Nach der Ausschreibung und langem Prozedere erhielten die international bekannten japanischen Architekten vom Unternehmen Sanaa den Zuschlag.
Die ehemaligen Kohleminen von Lens Ausstellungshalle Lens-Louvre
Sichtachsen auf unsere Zivilisation
„Die Architekten bauten einen sehr lichten Museumskomplex, vollständig aus Glas, der alle einladen will, in sein Inneres zu kommen“, erzählt die Historikerin Julia Maaßen, die hier als Fremdenführerin arbeitet.
Historikerin Julia Maaßen
„Die Glaswände erlauben einen Blick in den Park und in der Ferne auch auf Abraumhalden des Bergwerks.“ Übrigens sei die jetzt erreichte exakte Höhe der Glaswände von 6.50 Meter bei allen Beteiligten gut in Erinnerung. Geplant hatten die Architekten eine Höhe von sieben Metern, für die allerdings kein Hersteller gefunden werden konnte und den gesamten Bau um zwei Jahre verzögerte. Der Louvre-Lens wurde im Dezember 2012 eröffnet. Einen besonderen Reiz hat seine große Ausstellungshalle mit einer Länge von 220 und einer Breite von 25 Metern, in der auch keine Säulen stören. Im Unterschied zum großen Bruder in Paris kann hier die Grundidee verwirklicht werden, die insgesamt 205 Kunstwerke chronologisch aufzubauen und unterschiedliche Kunstabteilungen zu vereinen. Die Zeitleiste ist ein Orientierungspunkt. So ist die Skulptur neben dem Mosaik und neben dem Gemälde platziert.
Der große Ausstellungssaal
Auch sind hier alle Zivilisationen vertreten, beginnend 3500 v. Christus mit einer Tontafel aus Mesopotamien im heutigen Irak bis hin zur Neuzeit im Jahr 1848. Neu an der Konzeption ist weiterhin, dass in diesem Kunstmuseum Sichtachsen zwischen den einzelnen Zivilisationen und Epochen entstehen. Wie im Pariser Louvre wird auf die Moderne verzichtet. Den Schlusspunkt der Ausstellung in Lens setzt das weltberühmte Gemälde von Delacroix „Die Freiheit führt das Volk“. Das mit romantischer Ehrfurcht gemachte Bild, Symbol und Mythos des Freiheits-Begriffs, wird allerdings Ende des Jahres nach Paris zurückkehren.
Delacroix „Die Freiheit führt das Volk“
Eine Million Besucher erwartet
„Zur Grundidee in Lens gehört auch“, so Julia Maaßen, „dass etwa 10 bis 15 Prozent der Kunstwerke in der Haupthalle pro Jahr ausgetauscht und alle fünf Jahre die Ausstellung komplett neu bestückt wird.“ Hier werde also keine Kunst der zweiten Wahl oder ein Mini Louvre präsentiert, sondern eine neue und andere Art der Kunstausstellung. Außerdem hat der Besucher die Möglichkeit, die Werkstätten zu besuchen und Restauratoren über die Schulter zu schauen.
Im großen Ausstellungssaal Blick aus dem Louvre auf den Abraumberg
Während der Eintritt zu den Wechselausstellungen noch moderate Preise von neun Euro ausweist, ist der Besuch der zentralen Kunstausstellung bisher kostenlos. Die erwartete jährliche Besucherzahl von 700.000 ist bereits noch oben korrigiert. Das Museums-Team rechnet mit einer Million Menschen, die zusätzlich die Industrieregion in Nordfrankreich beleben werden.
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