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Ronald Keusch

Von Samstagnacht bis Sonntagmorgen

„Nachtgestalten“ in der Berliner S-Bahn




Am Berliner Hauptbahnhof (© S-Bahn Berlin GmbH, D. Ulrich)
Am Berliner Hauptbahnhof


Seit Sommer dieses Jahres unterscheidet sich Berlin in einem weiteren Punkt von anderen europäischen Metropolen – von Freitagnacht bis Sonntagmorgen fährt die S-Bahn auf vielen Strecken mit verkürzen Takten durch. Auch „Nachtschwärmer“ sollen sicher, rasch und bequem nach Hause kommen. An einem Samstag im September machte ich für das GRUNDBLATT die Probe aufs Exempel.



S-Bahnhof Hackescher Markt, 23.20 Uhr – Zur Speicher-Scheune:

Lautes Lachen vom Anfang des Bahnsteigs. Eine Mädchengruppe ist nicht zu überhören. Es zwitschert wie in einem Vogelschwarm: „Wir sind leider erst seit gestern in Berlin und bleiben nur bis Montag.“

„Ich bin Stefanie und komme aus Stollberg bei Aachen; und das sind Antonia aus Neunkirchen und Franzi aus München. Wir besuchen hier ein Junior Business Camp.“

„Jetzt wollen wir in die ‚Scheune’ fahren.“

„Wieso ‚Scheune’? Das Lokal heißt doch ‚Speicher’!“

„Wie lange fährt die S-Bahn eigentlich? Was, die ganze Nacht? Bei uns fahren nur Busse bis Mitternacht.“

Die S-Bahn-Türen schließen, der Zug fährt ab.


Party-Location "Speicher" (© Ronald Keusch) Galerie Lafayette (© Berlin Tourismus Marketing GmbH)

Nur für einige Momente ist der Bahnsteig leer. Dann füllt er sich langsam wieder. Das Studentenpaar Peter und Katrin schlendert durch den Bahnhof. Sie tragen jeder eine Papiertüte mit der Aufschrift Galerie Lafayette in der Hand. In den Tüten stecken Bücher, ein Schnellhefter und über den Tütenrand ragt eine Mineralwasserflasche. Nur eine Station wollen beide fahren, bis Friedrichstraße. Sie haben es nicht weit vom Bahnhof, wollen um Mitternacht zu Hause sein.



S-Bahnhof Friedrichstraße 23.45 – Nur Seh-Männer unterwegs:

Der Zeitungsverkäufer hat auf dem Bahnsteig gleich neben der Treppe seinen Zeitungsständer aufgebaut. Die Menschen strömen aus der S-Bahn, ohne ihn weiter zu beachten. Schließlich bleibt eine Frau kurz stehen, schaut auf einige Schlagzeilen und geht weiter, ohne eine Zeitung zu kaufen. Es sind heute nur Seh-Männer unterwegs, kommt der trockene Kommentar aus dem grauen Gesicht des Zeitungsverkäufers.


Theater des Westens am Bahnhof Zoologischer Garten (© Ronald Keusch)
Theater des Westens am Bahnhof Zoologischer Garten


S-Bahnhof Zoologischer Garten 23.56 - Eine Palme für zu Hause:

Die 22-jährige Kerstin schnauft hörbar und die Anstrengung hat ihr Gesicht leicht gerötet. Sie schleppt eine Palme, die sie mit einem Seufzer auf dem Bahnsteig abstellt. Sie strahlt über das ganze Gesicht. Schon immer wollte sie so ein Riesengewächs für ihre Altbauwohnung in Neuköln. Aber eine Summe von 200 Euro konnte sie dafür im Blumenladen nicht bezahlen. Jetzt hat sich endlich ihr Wunschtraum erfüllt. Auf einem Straßenfest haben sich die Händler vor Mitternacht erweichen lassen und ihr den Tropenbaum für 40 Euro überlassen. Sie sitzt glücklich mit ihrer Palme im Abteil. Ihr Taxi ist die S-Bahn.


Kranzler-Eck am Bahnhof Zoologischer Garten
(© Berlin Tourismus Marketing GmbH, Drewes)
Kranzler-Eck am Bahnhof Zoologischer Garten

Nach wenigen Minuten steht der nächste Zug am Bahnsteig. Die kleine grazile 29-jährige Japanerin Nao schiebt ihr Fahrrad in den Wagen. Sie setzt sich auf eine Querbank und hält mit beiden Händen ihr Fahrrad fest, das hier ausreichend Platz hat. Nao ist Schauspielerin und kommt gerade von einer Probe in der Schaubühne. Hier hat sie zwei kleine Statistenrollen als Prostituierte und als Sekretärin in dem Brecht-Stück „Im Dickicht der Städte“ ergattert. Sie ist schon vier Jahre in Deutschland und findet die Nachtzüge in Berlin recht komfortabel. Bei ihr zu Hause – im Umfeld von Tokio – gebe es nur die Wahl zwischen Bus oder Taxi. Ihre Wohnung im Friedrichshain erreicht sie per Fahrrad in wenigen Minuten. Sie lächelt auch beim Aussteigen am S-Bahnhof Alexanderplatz.



S-Bahnhof Ostkreuz 0.55 Uhr – Höchststrafe: Kein Obst !

Die roten Baretts der zwei Männer vom Sicherheitsdienst sind bereits von weitem auf dem Bahnsteig sichtbar. Ihre Gesichter sind „dienstlich“. Viele Jugendliche sind hier auf den Bahnsteigen unterwegs. Sie kommen aus Dutzenden Gaststätten und Discos an der Warschauer Straße. Die S-Bahnen ins Zentrum sind deutlich geringer belegt als aus der Innenstadt heraus.


Oberbaumbrücke an der Warschauer Straße (© Berlin Tourismus Marketing GmbH)
Oberbaumbrücke an der Warschauer Straße

Mitten auf dem Bahnsteig steht seit 13 Jahren ein Obstverkaufsstand, geöffnet täglich rund um die Uhr. Verkäufer Michael hat gerade eine kleine Kundenschlange aus einer ankommenden S-Bahn versorgt, zwei Äpfel, eine Handvoll Weintrauben. Seine Nachtschicht endet früh um 8 Uhr und verläuft meist recht geruhsam und friedlich. Überfälle, Verfolgungsjagden oder Eifersuchtsdramen gebe es nur im Kino, so sein Resümee nach fünf Jahren mit Obst auf dem Bahnsteig. Und wenn tatsächlich ein Rabauke frech wird und sich selbst bedienen will? „Der bekommt die Höchststrafe – kein Obst!“, so macht sich Michael Mut hinter seinem Berg aus Äpfeln.



S-Bahnhof Hackescher Markt 1.30 Uhr - Cocktails im Liegestuhl:

Seit einer halben Stunde gibt es hier alle 15 Minuten ein Nachttreffen von S-Bahn mit Straßenbahn und Bus. Heike, 24-jährige Studentin der Finanzwirtschaft, kommt leicht angeheitert mit zwei Freunden auf den Bahnsteig. Sie waren bis jetzt in der Strandbar am nahen Mobijoupark. Cocktails im Liegestuhl – passend zum diesjährigen Sommer!

Das Bild nachts auf dem S-Bahnhof hat sich im Vergleich zum Tag grundlegend verändert. Jüngere Leute in kleinen und größeren Gruppen dominieren, dann gibt es auch einige Pärchen, alle im stolzen Alter von 15 bis 35 Jahre. Die älteren Generationen haben jetzt eine Auszeit genommen.

Wieder ist nach 15 Minuten eine Bahn abgefahren, und wie auf Kommando finden sich neue Fahrgäste ein. Der 31jährige Oliver, promovierter Philosoph, fällt mit seinem Outfit auf. Er trägt zu Kordhosen und schickem blauen Hemd ein Jackett. Dazu hat er ein dickes Buch in der Hand, Adornos „Ontologie und Dialektik“. Mit einem Freund hat er im Cafe Cinema gesessen und diskutiert – aber nicht die ganze Zeit über Adorno, versichert er schnell und lächelt.


Sony Center am Potsdamer Platz (© Ronald Keusch)
Sony Center am Potsdamer Platz

S-Bahnhof Potsdamer Platz 2.30 Uhr – Eine Rote Rose: Mit den Nachtlinien ist der Fahrgast mit Umstieg in Friedrichstraße in wenigen Minuten am Potsdamer Platz. Hier ist in die menschenleeren Zugänge, Treppen und Bahnsteige die nächtliche Stille eingezogen. Dann belebt sich ein Bahnsteig. Ein junges Paar setzt sich eng umschlungen auf eine Bank. Das Mädchen trägt eine langstielige rote Rose in der Hand. Sie warten auf ihre Bahn nach Lichterfelde Süd.



S-Bahnhof Hackescher Markt 2.50 Uhr – Ein Bayer in Berlin:

Hier – auf dem wichtigsten Umsteigepunkt im Nachtverkehr der Berliner S-Bahn – ist immer noch reger Betrieb. Dann hat der 25jährige Thomas aus dem bayrischen Donauwörth seinen Auftritt. Er trägt einen breitkrempigen Wanderhut mit einem geflochtenen Band, bequeme Wanderstiefel, eine lange Trachtenwanderhose und hat einen großen Rucksack auf dem Rücken. Der Physikstudent sieht wie ein Grüner in Berufskleidung aus und – er ist es auch. Thomas kommt gerade von einem Sommerfest seiner Partei am Gendarmenmarkt. Sein Statement ist klar: Mit dem öffentlichen Nahverkehr bin ich in Berlin immer angekommen.


Hackesche Höfe Gendarmenmarkt mit Konzerthaus und Französischem Dom
(© Berlin Tourismus Marketing GmbH, Koch) (© Berlin Tourismus Marketing GmbH)

Benjamin, 22 Jahre, und Martin, 19 Jahre, diskutieren intensiv und sind zu dieser Stunde in Feierabendstimmung, haben recht gute Laune. Sie sind Koch-Azubis im nahen Restaurant Engelhardt. Seit Mitte Juni, weiß Martin, fahren die Nachtlinien von Freitag bis Sonntag und vor Feiertagen nicht mehr nur alle 30 Minuten, wie zuvor, sondern alle 15 Minuten. Im Übrigen: Na klar, sie dürften schon richtige Gerichte kochen – wie heute Abend Kaninchenkeule – und ganz besonders könnten sie ihren Schokoladengulasch empfehlen. Habe ich richtig gehört? „Ja, Schokoladengulasch. Muss man probiert haben!“


Bruno, 46 Jahre, und Rainer, 47 Jahre, tauchen auf. Sie sind mit ihrem Kegelclub aus der Rhön vier Tage in Berlin. Und jetzt haben beide für ihre gehobene Stimmung gute Gründe. Sie kommen aus einem Spielclub, Rainer hat etwas gewonnen und Bruno blieb beim Verlieren in seinem gesetzten Limit.



S-Bahnhof Alexanderplatz 3.55 Uhr – Nachtschwärmer und Frühaufsteher treffen sich:

Zwei bullige Herren mit Kurzhaarschnitt, in weißen Hemden, ohne Jacke, aber mit dicken schwarzen Schlagstöcken am Gürtel laufen nebeneinander langsam an der Bahnsteigkante entlang und sorgen auch zu dieser fortgeschrittenen Zeit für Sicherheit.

Heiko kommt die Treppe hoch. Er hat einen kleinen Rucksack über der Schulter und trägt ein teures Designer-T-Shirt – mit FDJ-Emblem. Er geht frisch, geduscht und mit munterem Schritt an zwei auf einer Bank sitzenden, sichtlich müden Mädchen vorbei. Ihre Disco-„Schicht“ ist vorbei, seine Schicht im Zimmerservice im Westin Grand Hotel beginnt um 4.30 Uhr. Zu dieser Zeit endet der Nachtbetrieb der S-Bahn-Linien und nahtlos beginnt die Frühschicht.


S-Bahn am Bahnhof Alexanderplatz © S-Bahn Berlin GmbH, D. Ulrich
S-Bahn am Bahnhof Alexanderplatz



Zusatzinformation:


Seit dem 16. Juni 2003 gibt es im Nachtverkehr von Freitag zu Samstag, von Samstag zu Sonntag sowie vor Feiertagen ein erweitertes Angebot der S-Bahn Berlin. Der bisherige 30-Minuten-Takt auf der Stadtbahn zwischen Bahnhof Zoologischer Garten und Lichtenberg verkürzt sich auf 15 Minuten. Auf dem Süd- und Ostring sind die Züge ebenfalls alle 15 Minuten unterwegs.

An den wichtigsten Umsteigepunkten Hackescher Markt, Bahnhof Zoologischer Garten und Ostkreuz kann man ohne längere Wartezeiten in andere Linien umsteigen.

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